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Alles anders?
Auf einmal herrschte Ausnahmezustand: Die Coronapandemie hat Schüler und ihre Eltern in den vergangenen Monaten vor enorme Herausforderungen gestellt. Wie hat sie diese Zeit in Bezug auf das Lernen geprägt? Eine Mutter und ein Wissenschaftler erzählen.
Ein Gespräch über eine Video-Plattform? Vor nicht allzu langer Zeit, wäre das für Heike Reuter unvorstellbar gewesen. „Ich wusste gar nicht, wie das geht.“ Doch seitdem ein Virus namens Corona den Alltag stilllegte und in der ganzen Republik plötzlich zu Hause statt im Klassenzimmer gelernt wurde, hat sich einiges verändert. Für Eltern wie Heike Reuter, die beruflich Geschäftsführerin des Kinderschutzbunds Konstanz ist. Und für Kinder und Jugendliche.
Was genau anders ist – das hat die zweite Person, die an diesem Vormittag unserer Videokonferenz zugeschaltet ist, systematisch untersucht: Michael Sommer vom Institut für Demoskopie in Allensbach. Im Auftrag der Deutsche Telekom Stiftung haben der Wissenschaftler und sein Team im Frühjahr 2021 mehr als 1.000 10- bis 16-Jährige sowie 500 Eltern dieser Altersgruppe befragt. Das Team wollte wissen, wie sich die Herausforderungen der coronabedingten Schulschließungen auf das Lernverhalten und die Lernmotivation von Schülern ausgewirkt haben.
„Die Untersuchung knüpft an eine Studie an, die wir Anfang März 2020 – also vor dem ersten Lockdown – gemacht haben“, berichtet Sommer. „Auch diesmal ist die Befragung repräsentativ für diese Gruppe von Schülern und Eltern.“ Wie also stehen 10- bis 16-Jährige heute zum Thema Lernen? Wer unterstützt sie dabei? Und wie haben sie das Lernen während der Pandemie erlebt?
Schüler und Eltern allein zu Hause
Die Auswertung zeigt: Die meisten Schüler sind nach eigener Einschätzung gut durch die Krise gekommen – allen Herausforderungen zum Trotz. „Schaut man genauer hin, zeigt sich aber eine Ungleichheit“, sagt Sommer. Lernstarke, bildungsnahe Schüler ziehen demnach eine bessere Bilanz als Kinder und Jugendliche, die sich schon vor der Pandemie eher schwer taten mit dem Lernen. Sie sind es auch, die jetzt am wenigsten motiviert sind, coronabedingte Lernrückstände aufzuholen. „Die soziale Schere beim Bildungserfolg hat sich durch Corona weiter vergrößert“, so der Wissenschaftler.
Eine mögliche Erklärung: Noch mehr als in normalen Zeiten lag die Verantwortung für den Lernerfolg bei den Eltern. „Natürlich waren wir immer schon Vorbilder, haben bei den Hausaufgaben geholfen und uns Gedanken darüber gemacht, wie wir unsere Kinder für bestimmte Inhalte begeistern können“, erzählt Reuter. „Doch im Lockdown waren die Eltern von einem Tag auf den anderen quasi die einzigen Ansprechpartner – neben dem Internet.“
Denn, so ihre Erfahrung, nicht immer waren Lehrkräfte in entscheidenden Momenten greifbar. Und auch Sportvereine, Jugendhäuser und Co. mussten sich erst einmal neu organisieren, bevor sie virtuelle Angebote auf die Beine stellen konnten. Also wurde Heike Reuter zur menschlichen Wikipedia, zur Technikexpertin und zur Laborassistentin, die mit ihren Söhnen Chemieexperimente in der Küche versuchte.
» Einerseits haben wir mehr Verständnis füreinander entwickelt. Andererseits war ich mit dem Wissensdurst meiner Kinder oft auch überfordert. «
Heike Reuter, Geschäftsführerin des Kinderschutzbunds Konstanz und Mutter
„Einerseits war das schön. Ich glaube, dass wir dadurch mehr Verständnis füreinander entwickelt haben, was das Thema Lernen betrifft“, erzählt sie. „Andererseits war ich mit dem ganzen Wissensdurst meiner beiden 16- und 18-Jährigen oft auch überfordert.“
Damit war die insgesamt vierfache Mutter nicht allein: 27 Prozent der befragten Eltern haben das Gefühl, ihre Kinder nicht so unterstützen zu können wie sie es gerne möchten – ein Anstieg um 6 Prozentpunkte gegenüber der Umfrage im Vorjahr. Gleichzeitig sind Eltern die wichtigsten Ansprechpartner für die Kinder und Jugendlichen: 71 Prozent wenden sich an sie, wenn sie Hilfe beim Lernen benötigen.
Mehr Lernfreude jenseits des Klassenzimmers
„Alle Eltern lernen mit ihren Kindern“, sagt Sommer. „Doch gerade wenn es um die Förderung von Fähigkeiten und Interessen geht, spielt der Bildungshintergrund eine entscheidende Rolle: etwa für den Zugang zu musischen und kulturellen Dingen, zu Sport oder der Frage nach Medienkompetenz. Hier stößt übrigens auch Schule oft an ihre Grenzen.“
Prozent
der Kinder und Jugendlichen wenden sich an ihre Eltern, wenn sie Hilfe beim Lernen benötigen.Prozent
der Kinder und Jugendliche lernen gerne, wenn es um Themen außerhalb der Schule geht – zum Beispiel um ihr Hobby.Aus Sicht der Telekom-Stiftung spielen daher außerschulische Lernorte eine wichtige Rolle für den Bildungserfolg – vom Jugendhaus über die Musikschule bis hin zur Bibliothek. Heike Reuter kann das nur bestätigen. Sie erlebt es täglich bei ihren eigenen Kindern und bei ihrer Arbeit für den Kinderschutzbund: „Wenn Themen nicht vor der starren Tafel stattfinden, dann ist die Atmosphäre eine andere. Ohne Druck und Lernstress ist die Bereitschaft, sich einzubringen besser.“
Diese Einschätzung bestätigt die Allensbach-Umfrage eindrücklich: Nur 36 Prozent der Kinder und Jugendlichen geben an, gern für die Schule zu lernen. Geht es dagegen um Themen außerhalb des Klassenzimmers, haben 87 Prozent Spaß daran – vor allem, wenn sie selbstbestimmt über das Was und Wie entscheiden dürfen. Es scheint daher nicht verwunderlich, dass zum Beispiel eine Mehrheit der Schüler während des Lockdowns Sportvereine vermisst hat. Andere Lernorte wie Museen oder Makerspaces fehlten dagegen sehr wenigen. Ein Hinweis darauf, dass diese Lernorte nicht gut bekannt sind?
» Es geht jetzt darum, die Fortschritte weiter auszubauen, die bei der Einbettung digitaler Medien erzielt wurden oder bei der Vermittlung jenseits des Frontalunterrichts. «
Michael Sommer,
StudienleiterProzent
der Schüler können laut eigener Aussage heute besser Prioritäten setzen als vor der Pandemie.Oops, an error occurred! Code: 202504190714349cb254f6Zurück in die Schule
Stimmt dieser Verdacht, wäre das eine vertane Chance. Denn Bildungsexperten sowie die befragten Eltern schreiben außerschulischen Lernorten auch für die Entwicklung überfachlicher Kompetenzen eine entscheidende Bedeutung zu. Immerhin: Während der Pandemie haben sich einige solcher Fähigkeiten verbessert. So geben 41 Prozent der Schüler an, heute besser Prioritäten setzen zu können. Auch beim Recherchieren von Informationen oder im Umgang mit digitalen Medien sind sie nach eigener Aussage kompetenter geworden. „Meine Kinder gehen heute selbstverständlich mit dem Tablet in die Schule – und das ist gut so“, meint Reuter.
Dass sie wieder ins Klassenzimmer dürfen, wüssten ihre Kinder zu schätzen. „Schule hat für sie nach wie vor eine große Bedeutung, vielleicht sogar mehr denn je.“ Trotz des Mangels an Lernfreude im Unterricht geben auch in der Befragung über die Hälfte der Schüler an, künftig wieder ausschließlich in der Schule lernen zu wollen. Zudem denken sie beim Stichwort „Lernen“ zuallererst an diesen Ort.
„Schule ist und bleibt ein zentraler Bildungsort“, konstatiert Sommer. „Es geht jetzt darum, die Fortschritte weiter auszubauen, die bei der Einbettung digitaler Medien erzielt wurden oder bei der Vermittlung jenseits des Frontalunterrichts. Dafür müssen auch außerschulische Lernorte vermehrt mit eingebunden werden.“ Und Heike Reuter ergänzt: „Wir haben unseren Kindern in der Pandemie viel zugemutet. Sie haben es verdient, dass sie jetzt vielfältige Lerngelegenheiten bekommen und wieder mehr Freude am Lernen entwickeln.“ Und mit dieser Anmerkung verabschiedet sie sich ganz selbstverständlich aus der Videokonferenz.
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Fotos und Videos: Sascha Kreklau, Marcel Kusch
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